Infiltration der Seehäfen: Neue Studien belegen Eskalation der Kokainspirale
Fast täglich erreichen die Öffentlichkeit Meldungen über neue Aufgriffe von Rauschgift in Rekordmengen, der Tonnenbereich ist mittlerweile keine Ausnahme mehr. Im Zehn-Jahres-Zeitraum ist laut einem EU-Bericht bei Kokain sogar eine Steigerung der aufgegriffenen Menge um 416 Prozent zu verzeichnen. Aktuelle Studien belegen die zunehmende Verlagerung der Schmuggelrouten nach Deutschland, komplexere Vertriebswege und die Infiltration der deutschen Häfen.
Der BDZ wiederholt seinen Appell: „Die beispiellose Kokainschwemme, die wir an den Nordseehäfen sehen, muss ein Weckruf sein. Die Politik muss bei der Ausstattung des Zolls aufrüsten und beispielsweise die Röntgenanlagen stärker zum Einsatz bringen,“ so der Bundesvorsitzende Thomas Liebel.
- Über Containerfrachter kommt die Mehrheit der Schmuggelware ins Land. Nur ein Bruchteil der Container kann durchleuchtet werden. In Belgien und den Niederlanden wird dies verstärkt praktiziert.
Der BDZ warnt seit Jahren vor der Dynamik durch sprunghafte Zunahme des Kokainschmuggels. Dabei sprechen die neuesten Zahlen für sich: Die gesamte in Europa beschlagnahmte Menge an Kokain wurde von der EU im Jahr 2021 vor Kurzem noch auf rund 240 Tonnen angegeben. Dieser Wert wurde mit dem Europäischen Drogenbericht 2023 vor wenigen Tagen jedoch auf 303 Tonnen nach oben korrigiert. Somit ist eine Vervierfachung verglichen mit dem Wert von 70 Tonnen aus dem Jahr 2016 festzustellen. Betrachtet auf den Gesamtzeitraum 2011-2021 ist eine Steigerung von 416% zu verzeichnen!
Vorläufige Daten für 2022 würden laut dem Bericht ebenfalls zeigen, dass die Menge des in Antwerpen, dem zweitgrößten Seehafen Europas, beschlagnahmten Kokains von 91 Tonnen im Jahr 2021 auf 110 Tonnen gestiegen ist. Infolge der Überschwemmung des europäischen Marktes ist der Straßenpreis für Kokain in den vergangenen fünf Jahren um 40 Prozent gefallen und liegt im Gebiet Antwerpen heute offenbar bei 1 Gramm für 50 Euro. Damit ist das Konsumieren einer „Line“ inzwischen günstiger geworden, als sich in einer Bar einen Cocktail zu bestellen.
Infiltration deutscher Nordseehäfen: Keine niederländischen Verhältnisse!
Die EU-Innenkommissarin Ylva Johannson verweist in einem Statement vom 16. Juni 2023 konkret auf das Problem der Infiltration der europäischen Seehäfen und deren Lieferketten durch die Drogenbanden. Derweil setzt sich, wie der NDR letzte Wocheund diese Woche berichtete, die Einbruchserie im Hamburger Hafen fort, bei der die Täter es vermutlich auf eine bereits vom Zoll sichergestellte Kokainlieferung von rund zwei Tonnen abgesehen haben.
Der Transportweg über handelsübliche Container ist der Hauptgrund für die hohe Verfügbarkeit dieser Droge. Eine von Europol bereits im April 2023 veröffentlichte Studie, an deren Erstellung auch das Zollfahndungsamt Hamburg mitgewirkt hat, hatte genauer aufgezeigt, welche Schlüsselrolle den sogenannten Hafeninnentätern beim Organisieren der illegalen Einfuhr und Verbringung der Ware zukommt. Durch das Hacken von Datenbanken der Reedereien, Terminalbetreiber und Hafenbehörden verschaffen sich die kriminellen Banden Zugriff auf die Container, die das Schmuggelgut aus Übersee enthalten. Nachdem die Banden mit PIN-Codes die genauen Standorte der Container digital ausgelesen haben, werden diese auf unterschiedliche Weise abgefangen. Teilweise werden sie bereits von den Verladeplätzen aus der Logistikkette „abgezweigt“, teilweise werden die Fahrer der Transportunternehmen direkt angegangen, bestochen oder bedroht.
Für den Hamburger Zollfahnder Niels Hennig, der beim BDZ den Fachausschuss Sicherheitsaufgaben leitet, ist klar: „Wir müssen gegensteuern, bevor sich niederländische Verhältnisse an unseren Seehäfen einstellen und Kriminelle freie Hand im Hafengebiet haben. Eine langfristige Antwort auf die gefährlichen Entwicklungen kann nur in der engeren Kooperation aller Strafverfolgungsbehörden mit den Hafenbetreibern liegen.“ Jedoch sei eine Gesamtstrategie zur Hafensicherheit auf politischer Ebene aktuell nicht zu erkennen. Dazu kommentiert der stellvertretende BDZ Bundesvorsitzende Christian Beisch: „Die gelegentlich aus den Reihen der Politik zu hörende Idee, der Zoll möge doch einfach im Hafengebiet präventiv Streife fahren, ist nicht nur realitätsfern, sondern entspricht auch nicht dem gesetzlichen Auftrag. Der Zoll muss in der Warenabfertigung eine hohe Kontrolldichte gewährleisten können und die Polizei muss ihrerseits für eine effektive Gefahrenabwehr sorgen. Auf das Zusammenspiel kommt es an.“
Dabei sollte selbstverständlich sein, dass an den nötigen Führungs- und Einsatzmitteln für die Sicherheit der Vollzugskräfte wie beispielsweise Schutzwesten nicht gespart werden kann, so die BDZ Vertreter. Zeitgemäße technische Ausstattung müsste außerdem den Zugriff auf kryptierte Smartphones, mobil durchführbare Datenbankabfragen und Investitionen in bessere Röntgenanlagen umfassen. Moderne Ermittlungen finden zudem im Cyber-Raum statt, wo auch die Täter kommunizieren. Deshalb sind Bearbeitungsrückstände in der digitalen Forensik, d.h. der Auswertung beschlagnahmter IT-Technik der Täter, nicht hinnehmbar.
Vertriebswege werden komplexer – Zoll muss flächendeckend präsent sein
Die besorgniserregenden Entwicklungen um Kokain stehen natürlich nicht für sich alleine. Die Statistiken der EU und des zum Weltdrogentag 26. Juni von der UN veröffentlichten Weltdrogenberichtes belegen für die anderen Drogen eine massiv, wenn auch nicht im selben Ausmaß, gestiegene Verfügbarkeit. Im Fokus stehen dabei synthetische Drogen, deren Herstellung für Kriminelle mit geringeren Kosten, kürzeren Produktionszyklen und Vertriebswegen verbunden ist. Auf dem europäischen Markt treten beispielsweise neue unkontrollierte synthetische Opioide auf, deren Bedeutung im Vergleich zum klassischen Heroin zunimmt. Bei Crystal Meth ist aktuell von tschechischen Drogenfahndern zu hören, dass sich die Großproduktion zunehmend in andere EU-Staaten verlagert habe. Ein Grund sei jedoch der zunehmende Fahndungsdruck in Tschechien selbst. Der EU-Drogenbericht 2023 betont in diesem Kontext auch die gewachsene „Vertriebsinfrastruktur“ der Drogenkartelle innerhalb Europas, die durch eine Vielzahl separater Produktions- und Logistikstandorte gekennzeichnet ist. Eine Diversifizierung sei vor allem bei Laboren für Kokain (34 ausgehobene Standorte) und für synthetische Drogen (434 ausgehobene Standorte) erkennbar.
Dies belegt, was der BDZ bei der Schmuggelbekämpfung schon lange predigt: Ohne flächendeckend intensive Kontrollen verschiebt sich das Problem nur von A nach B. Deshalb wäre die Gewährleistung einer flächendeckenden Präsenz der mobilen Kontrolleinheiten des Zolls das Mindeste, was angesichts solcher Entwicklungen kurzfristig zu erwarten ist. Davon kann angesichts des Verschiebebahnhofs durch die Organisationsuntersuchung bei den Sachgebieten C der Hauptzollämter aktuell aber keine Rede sein. Eine Umverteilung vorhandener Ressourcen zu den Haupteinfallsrouten entlang der niederländischen und belgischen Grenze darf keine Löcher an anderer Stelle, etwa den Ostgrenzen, aufreißen. Nicht zuletzt wird auch der Umstand, dass viele Drogen ihre Empfänger mittlerweile über den Postweg erreichen, zu oft übersehen: Auch die Kolleginnen und Kollegen an den Binnenzollämtern leisten einen Beitrag zur Schmuggelbekämpfung und müssen entsprechend entlastet werden.